Sachverständigenrat für Umweltfragen

Umweltgutachten 2002 : Der Umweltrat sieht gute Ansatzpunkte für eine neue Vorreiterrolle in der Umweltpolitik

Datum 11.04.2002

Das heute dem Bundesumweltminister Trittin überreichte Umweltgutachten 2002 steht unter dem Motto "Für eine neue Vorreiterrolle". Der Umweltrat wendet sich gegen die verbreitete Annahme, dass eine führende Rolle im Umweltschutz zwangsläufig mit wirtschaftlichen Nachteilen im internationalen Wettbewerb verbunden ist. In weiten Bereichen ist das Gegenteil der Fall. Gerade bei Umweltproblemen, die künftig international Handlungsdruck auslösen werden, rentiert sich eine Politik, die sich frühzeitig an den ökologischen Erfordernissen
orientiert und geeignete Problemlösungen entwickelt, über kurz oder lang auch wirtschaftlich. Fortschritte der europäischen und der globalen Umweltpolitik erfordern nach bisheriger Erfahrung nationale Vorreiter. Solche Fortschritte sind weiterhin erforderlich. In vielen Bereichen, so zum Beispiel beim Flächenverbrauch, dem Lärm, der Klimaentwicklung oder dem Artenschwund gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Auf solche bislang ungelösten, persistenten Probleme muss die Umweltpolitik sich künftig konzentrieren. Der Umweltrat begrüßt
die ehrgeizige Klimapolitik der Bundesregierung und die eingeleiteten Schritte zu einer Ökologisierung wesentlicher umweltrelevanter Politikbereiche (z. B. Agrarpolitik). Auch in diesen Feldern besteht allerdings noch Entwicklungsbedarf. So wird sich ein anspruchsvoller Klimaschutz nur dann effizient und kostengünstig fortführen lassen, wenn die Sonderkonditionen für die deutsche Kohle aus der umweltpolitischen Tabuzone befreit und zügig abgebaut werden. Mit der weiter zu entwickelnden ökologischen Steuerreform und dem europäischen
Emissionshandel stehen zwei wirkungsvolle Instrumente eines effizienten und flexiblen Klimaschutzes zur Verfügung.

Weiteren Reformbedarf sieht der Umweltrat insbesondere in der Abfallpolitik. Die wünschenswerten hohen Standards bei der Abfallbeseitigung haben angesichts unzureichender rechtlicher Rahmenbedingungen zur Verlagerung von Abfallströmen in ökologisch fragwürdige Verwertungswege geführt. Dies muss wirksamer korrigiert werden. Die Entwicklung in diesem Bereich ist ökologisch unvertretbar und bedroht die Funktionsfähigkeit der kommunalen Abfallwirtschaft. Als zweifelhaft erachtet der Umweltrat auch die termingerechte Vollziehbarkeit der Abfallablagerungsverordnung. Das 835 Seiten umfassende 8. Hauptgutachten des Umweltrates behandelt ein breites Spektrum der deutschen und europäischen Umweltpolitik. In dem beigefügten Eckpunktepapier sind einige zentrale Aussagen des Gutachtens zusammengefasst.

Für eine neue Vorreiterrolle - Eckpunkte des Umweltgutachtens 2002

Fortschritte der europäischen und der globalen Umweltpolitik erfordern nach bisheriger Erfahrung nationale Vorreiter. Für die Entwicklung besserer Problemlösungen haben hochentwickelte Länder wie Deutschland nicht nur gute Voraussetzungen, sie profitieren in aller Regel auch von umweltpolitischen Pionierleistungen. Bereits unter der Regierung
Brandt-Genscher wurden institutionelle Neuerungen eingeführt, die in der heutigen Debatte um eine langfristige Querschnittspolitik des Umweltschutzes wieder aktuell geworden sind. Ebenso wurden frühzeitig die Grundlagen für eine deutsche Führungsrolle im Export von Umwelttechnik gelegt. Unter der Regierung Kohl hat Deutschland im Bereich des Klimaschutzes und der Abfallpolitik eine Pionierrolle für die Entwicklung der internationalen Umweltpolitik eingenommen. Die rot-grüne Bundesregierung hat diese Rolle im Klimaschutz - zum Beispiel
durch das international beachtete "Erneuerbare-Energien-Gesetz" - ausgebaut. Sie strebt mit dem Konzept der "ökologischen Modernisierung" eine breite Innovationsorientierung in der Wirtschaft an.
Umweltinnovationen sind auf eine Vorreiterrolle der Politik angewiesen. Auch in anderen Politikbereichen besteht die Chance, Neuerungen einzuleiten, die nicht nur "Win-win-Lösungen" vor Ort, sondern auch Beiträge zu einer Weiterentwicklung der europäischen und der internationalen Umweltpolitik sein können. Das vorliegende Gutachten betont die Chancen einer innovationsorientierten Vorreiterrolle. Es kritisiert vor diesem Hintergrund Entwicklungen, die diesen Chancen nicht gerecht werden oder ihnen sogar entgegen laufen.

  1. Der Umweltrat sieht erhebliche wirtschaftliche und ökologische Chancen einer kalkulierten nationalen Vorreiterrolle.
    Mit einer Vorreiterrolle, die sich auf international imitierbare
    Problemlösungen und eine innovationsfreundliche Ausgestaltung der Maßnahmen konzentriert, lassen sich wirtschaftliche "First-Mover"-Vorteile mobilisieren. Für die Entwicklung
    umwelttechnischer Innovationen, die international vermarktbar sind, bedarf es nationaler "Lead-Märkte", die Entwicklungs- und Erprobungskosten auf sich nehmen. Dies können nur große und ökonomisch starke Länder wie Deutschland leisten.
  2. Der Umweltrat warnt davor, dass Nachhaltigkeit zu einem Beliebigkeitsbegriff verkommt.
    Er tritt für eine Konzeption ein, die die begrenzte Belastbarkeit von Ökosystemen, die Grenzen einer Substitution von Natur- durch Sachkapital und die mögliche Irreversibilität von menschlichen Eingriffen berücksichtigt. Wenn Nachhaltigkeit nicht in ihrer ökologischen Dimension ernst genommen wird, werden Freiheitsspielräume zukünftiger Generationen eingeschränkt. Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie sollte dieser Konzeption durch anspruchsvolle Ziele Rechnung tragen und damit eine neue Vorreiterrolle begründen.
  3. Der Umweltrat hält das nationale Klimaschutzziel für 2005 nur für realisierbar, wenn das bestehende Instrumentarium weiter entwickelt und wirkungsvoller ausgestaltet wird. Darüber hinaus empfiehlt er der Bundesregierung, ein CO2-Reduktionsziel von 40 % bis 2020 gegenüber 1990 festzulegen.
    Der Rat begrüßt das Klimaschutzprogramm von 2000, mahnt aber Nachbesserungen an. Revisionsbedürftig sind die Fortführung der Steinkohlesubventionen nach 2005 und die fehlende Berücksichtigung der überdurchschnittlichen CO2-Emissionen der Kohle bei derÖkosteuer und der KWK-Förderung. Der Umweltrat fordert, an den bisher beschlossenen
    Schritten der ökologischen Steuerreform festzuhalten und die Steuersätze auch über das Jahr 2003 hinaus langsam, aber kontinuierlich und für alle Beteiligten langfristig voraussehbar ansteigen zu lassen.
    Der Umweltrat empfiehlt der Bundesregierung, den Richtlinienvorschlag der Kommission zum Emissionshandel unter der Bedingung zu unterstützen, dass zusätzliche Sicherungen für die Funktionsfähigkeit des Systems - insbesondere Vorgaben zur Gewährleistung hinreichend anspruchsvoller nationaler Emissionsbegrenzungen und geeignete Sanktionen bei richtlinienwidrigem Verhalten der Mitgliedstaaten - vorgesehen werden. Das Ziel einer Reduktion der CO2-Emissionen um 40 % bis 2020 ist angesichts der wesentlichen Aussagen des aktuellen Sachstandberichts des Intergovernmental Panel on Climate Change klimapolitisch erforderlich. Es ist auch wirtschaftlich vertretbar, wenn ein kosteneffizienter Klimaschutzpfad eingeschlagen wird. Im letzten Energiebericht des BMWi werden die notwendigen Kosten erheblich überschätzt. Während der langfristig angelegte Ausstieg aus der Atomenergie mit einer ehrgeizigen Klimaschutzpolitik vereinbar ist, gilt dies für die bestehende Kohleförderpolitik nicht. Bei geeigneter
    Ausgestaltung kann ein ehrgeiziger Klimaschutzpfad auch zusätzliche Beschäftigung bringen.
  4. Der Umweltrat begrüßt die geplante Reform des europäischen Chemikalienrechts.
    Der Umweltrat empfiehlt der Bundesregierung, die Chance für einen deutlicher vorsorgeorientierten Ansatz der Chemikalienpolitik zu nutzen, die sich mit dem Weißbuch der Europäischen Kommission abzeichnet. Eine verbesserte Vorsorge im Altstoffbereich sollte allerdings nicht mit Defiziten im Neustoffbereich erkauft werden. Eine
    Aufweichung des im Weißbuch vorgeschlagenen Zulassungsverfahrens für besonders gefährliche Altstoffe muss vermieden werden.
  5. Der Umweltrat bedauert, dass die Bundesregierung die Novellierung des Fluglärmgesetzes vertagt hat.
    Fluglärm kann die menschliche Gesundheit gefährden und die Lebensqualität der betroffenen Bevölkerung erheblich beeinträchtigen. Der gesetzliche Schutz vor solchen Gefährdungen und Beeinträchtigungen ist unzureichend. Erforderlich sind insbesondere eine Ausweitung der Schutzzonen des Fluglärmgesetzes, die Normierung anspruchsvoller
    Lärmgrenzwerte für Neubau und wesentliche Änderungen von Flughäfen, gesetzliche Nachtflugbeschränkungen und eine rechtlich institutionalisierte Lärmschutzplanung im gesamten Flughafenumfeld. Grundsätzlich muss die Verlagerung des Kurzstreckenflugverkehrs auf umweltverträglichere Verkehrsmittel angestrebt werden.
  6. Der Umweltrat bezweifelt, dass eine Privatisierung bzw. Liberalisierung in den Infrastrukturbereichen der Wasserversorgung und der kommunalen Abfallentsorgung so ausgestaltet werden kann, dass ein hinreichend hohes Ausmaß an Wettbewerb und Effizienz gewährleistet ist. Dies gilt sowohl für einen "Wettbewerb um den Markt" als auch für einen "Wettbewerb im Markt".
    Es besteht vielmehr die Gefahr, dass öffentliche Monopole lediglich durch private ersetzt werden, wodurch umweltpolitisch bedenkliche Entwicklungen, Leistungsverschlechterungen oder sogar Preissteigerungen nicht ausgeschlossen werden können. Vor der Einleitung weiterer, in ihren Konsequenzen kaum mehr umkehrbarer Privatisierungs- bzw. Liberalisierungsschritte sollte deshalb geprüft werden, welche Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung im Rahmen der bestehenden öffentlich-rechtlichen Struktur existieren. Ansatzpunkte hierfür liegen unter anderem in der Einführung verpflichtender Benchmarking-Prozesse, in Maßnahmen zur Ausschöpfung von Größenvorteilen (Kooperationen, großräumigerer Zuschnitt von Entsorgungsgebieten) sowie in einem verstärkten Übergang zu privatrechtlichen Organisationsformen.
  7. Der Umweltrat begrüßt die Einleitung der Agrarwende in Deutschland.
    Der Umweltrat begrüßt die Maßnahmen der Bundesregierung zur artgerechten Tierhaltung, zur Förderung des ökologischen Landbaus sowie den Einstieg in die Modulation (Umwidmung von bisher für Direktzahlungen verwendeten Finanzmitteln zur Honorierung ökologischer Leistungen). Auch die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes mit
    einigen längst überfälligen zentralen Reformen (Biotopverbund, gute fachliche Praxis, Landschaftsplanung) ist in diesem Zusammenhang wird der Stellenwert des Naturschutzes gegenüber der Landwirtschaft insgesamt gestärkt. Allerdings ist es von besonderer Bedeutung, dass die Anforderungen des Bundesnaturschutzgesetzes nunmehr auf der Ebene
    der Bundesländer noch konkretisiert und umgesetzt werden. Für die dringend erforderliche weitere Reform der europäischen Agrarpolitik empfiehlt der Umweltrat insbesondere entschiedenere Schritte weg von Direktzahlungen und hin zur Honorierung ökologischer Leistungen, wie sie auch die Bundesregierung anstrebt. Die Regelungen zur
    Kofinanzierung müssen dabei reformiert werden.
  8. Der Umweltrat kritisiert Fehlentwicklungen in der Abfallverwertung und fordert eine Abfallverwertungspolitik, die ökologischen Gesichtspunkten angemessen Rechnung trägt.
    Die wünschenswerten hohen Standards bei der Abfallbeseitigung haben angesichts unzureichender rechtlicher Rahmenbedingungen zur Verlagerung von Abfallströmen in ökologisch fragwürdige Verwertungswege geführt. Es besteht deshalb Anlass, darauf hinzuweisen, dass aus ökologischer Sicht die Verwertung von Abfall keineswegs grundsätzlich der Beseitigung vorzuziehen ist. Deshalb muss durch geeignete Rahmenbedingungen sichergestellt werden, dass eine Verwertung (nur) dann erfolgt, wenn
    sie unter Abwägung ökologischer und ökonomischer Gründe tatsächlich vorteilhafter als die Beseitigung ist. Der Umweltrat sieht hier erhebliche Defizite insbesondere hinsichtlich der gemischten Gewerbeabfälle. Die Entwicklung in diesem Bereich ist ökologisch unvertretbar und bedroht die Funktionsfähigkeit der kommunalen
    Abfallwirtschaft. In der Gewerbeabfallverordnung sieht der Umweltrat keinen angemessenen Beitrag zur Problemlösung. Unsicherheiten hinsichtlich der europäischen Rechtslage müssen, statt als Blockaden, offensiver für ökologisch vertretbare Interpretationen und Weiterentwicklungen des EG-Rechts genutzt werden. Der Umweltrat sieht
    auch die Gefahr eines Scheinvollzugs der Abfallablagerungsverordnung.
    Er befürchtet, dass die Abfallablagerungsverordnung Mitte 2005 mangels ausreichender Vorbehandlungskapazitäten nicht oder nur mit problematischen Ausweichlösungen vollziehbar sein wird (Auslandsentsorgung, pseudo-vorläufige Zwischenlagerung, "Scheinvollzug durch Scheinverwertung"). Für den Fall, dass eine erforderliche erneute
    Überprüfung der Kapazitätsprognosen diese Befürchtung bestätigen sollte, wäre aus der Sicht des Umweltrates die Zulassung von Ausnahmegenehmigungen mit empfindlicher Abgabenbelastung solchen Ausweichlösungen vorzuziehen.
    Der Umweltrat hält trotz der Schadstoffverteilung, die mit jeder landwirtschaftlichen Klärschlammverwertung verbunden ist, einen völligen Verzicht auf diesen Verwertungsweg für derzeit nicht sachgerecht. Er empfiehlt eine kurzfristige Novellierung der Klärschlammverordnung mit Absenkung der bisherigen Schadstoffgrenzwerte für den Klärschlamm auf das 1,5-fache der aktuellen mittleren Schwermetallgehalte und der organischen Schadstoffwerte unter zusätzlicher Berücksichtigung weiterer organischer Parameter der
    EG-Klärschlammrichtlinie. Der mögliche Anteil der landwirtschaftlichen Verwertung am gesamten deutschen Klärschlammaufkommen würde sich mit diesen Verschärfungen um etwa ein Drittel verringern. Im Rahmen einer tiefergreifenden Reform sollten die umweltbezogenen Anforderungen an unterschiedliche in der Landwirtschaft verwendete Düngematerialien (Klärschlamm, Wirtschaftsdünger etc.) harmonisiert und in einem einheitlichen Regelwerk zusammengeführt werden. Langfristig ist eine Orientierung von Schadstoffwerten an den Bodenwerten der Bodenschutzverordnung anzustreben.

    Das Umweltgutachten kann im Volltext aus dem Internet bezogen werden: http://www.umweltrat.de
    Weitere Auskünfte erteilt: Dr. Christian Hey, Generalsekretär, Tel.: 030/263696- 0

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